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07.02.2013

Nanomaterialien in Haftpflichtversicherungen

Nanomaterialien werden in Industrie- und Konsumprodukten grossflächig eingesetzt. Neben den erwünschten Eigenschaften können sie aber auch erhebliche Risiken für Mensch und Umwelt bergen. Da Nanomaterialien in Haftpflichtversicherungen mitversichert sind, müssen Versicherungen prüfen, ob und in welchem Ausmass sie potenzielle Nanorisiken gezeichnet haben. Gleichzeitig müssen neue Risikodaten und die Regulierung von Nanomaterialien systematisch verfolgt und entsprechend Underwriting-Optionen entwickelt werden.

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Nanomaterialien sind verbreitet und wirtschaftlich relevant

Selbstreinigende Fensterscheiben, kratzfeste Lacke, transparente Sonnencremes, antimikrobielle Fassadenfarben, Verpackungsmaterialien oder Textilien. Dies sind nur einige Beispiele von Nanoprodukten. Auf dem Markt gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Industrie- und Konsumprodukten, welche Nanomaterialien (NM) enthalten. Als NM gilt ein natürliches oder künstlich hergestelltes Material, das Partikel in ungebundenem Zustand, als Aggregat oder als Agglomerat enthält, und bei dem mindestens 50 % der Partikel in einer oder mehreren Dimensionen zwischen 1-100 Nanometer (1 nm = 10-9 m) liegen . Stoffe im Nanomaβstab zeigen gegenüber den herkömmlichen Stoffen im Makromaβstab oft neue physikalische oder chemische Eigenschaften und sind deshalb für die Entwicklung neuer Produkte interessant.

In Deutschland beschäftigen sich rund 2.000 Unternehmen und Forschungsinstitutionen mit Nanotechnologien . Der grösste Anteil (45 %) sind kleinere und mittlere Betriebe (KMU), 40 % sind Forschungslabors und 15 % Groβunternehmen. Im Jahr 2011 waren rund 64.000 Arbeitsplätze direkt oder indirekt mit Nanotechnologien verbunden und es wurde ein Umsatz von 14,3 Mrd. Euro erzielt. Weil Nanotechnologien Querschnittstechnologien sind, nehmen die mit Nanoprodukten erzielten Umsätze in vielen Branchen stark zu. Bis ins Jahr 2020 erwartet beispielsweise die deutsche Lack- und Farbenindustrie, dass 20 % des Umsatzes auf Produkte mit Nanomaterialien zurückgehen wird. Dazu zählen z. B. die eingangs erwähnten, selbstreinigenden, hochkratzfesten oder antimikrobiellen Farben und Lacke („Smart Coatings") . In anderen Branchen ist die Situation vergleichbar. Weltweit soll bis zum Jahr 2015 das mit Nanotechnologien verbundene Marktvolumen 3 Billionen US-$ betragen. Das entspräche 15 % des globalen Industriegütermarktes.

Risikoprofil von synthetischen Nanomaterialien

Nanomaterialien sind in den letzten Jahren immer wieder ins Blickfeld einer kritischen Diskussion geraten. Im Fokus stehen die potenziell human- und ökotoxischen Wirkungen von Nanomaterialien. Obwohl sich die Risikoforschung seit mehreren Jahren mit Nanomaterialien beschäftigt, ist das mittel- und langfristige Risikopotenzial nicht geklärt. Neben physikalisch-chemischen Eigenschaften des Nanomaterials sind auch Daten zur Anwendung bzw. Exposition nötig. Nanomaterialien, welche stabil in eine Matrix eingebunden sind, stellen nach Meinung vieler Experten kein Risiko dar. Ungebundene, staubförmige oder luftgetragene Nanopartikel können hingegen eingeatmet und über die Lunge in die Alveolen und von dort ins Blut und in die Zellen vordringen. Von faserförmigen Kohlenstoff¬nano¬röhr-chen (sog. Carbon-Nanotubes; CNT) ist bekannt, dass sie sich in der Lunge ähnlich wie Asbestfasern verhalten und Entzündungen und asbestkrebs-ähnliche Veränderungen hervorrufen können. Nanopartikel können auch über die Nahrung in den Körper gelangen. Dazu gibt es noch vergleichsweise wenige Forschungsergebnisse. Allerdings konnte gezeigt werden, dass Titandioxid-Nanopartikel entzündliche und genotoxische Reaktionen bei Darmzellen hervorrufen können . Für die Umwelt sind es vor allem schwer abbaubare und biologisch aktive Nanomaterialien, die derzeit im Fokus stehen. Aus heutiger Sicht kann das mittel- bis langfristige Risikopotenzial von Nanomaterialien nicht abschlieβend beurteilt werden. Ein Spätrisikopotenzial (long-tail-risks) ist für bestimmte Nanomaterialien nicht auszuschlieβen.

Reale Risiken für Haftpflichtversicherungen

Eine neue Studie des Rückversicherers Gen Re  zeigt, dass Nanotechnologien aus heutiger Sicht durchaus das Potenzial haben, sich zu einem realen Risiko für Haftpflichtversicherer zu entwickeln. Dies vor allem, weil die potenziellen Risiken durch die weltweite Verbreitung von Nanomaterialien in zahlreichen Produkten und Industrien eine groβe Zahl von Menschen betreffen würde. Dies kann im Schadenfall für Haftpflichtversicherungen ein enormes Schadenspotenzial bedeuten. Betroffen wären hier:

  • Betriebshaftpflichtversicherung
  • Produkthaftpflichtversicherung
  • Umwelthaftpflichtversicherung
  • Produktrückruf
  • Arbeiterunfallversicherung

Angesichts der steigenden Klagebereitschaft könnten Schadenersatzansprüche wegen behaupteter Schäden durch Nanomaterialien in den nächsten Jahren ebenfalls zunehmen. Die unlimitierte passive Rechtschutzfunktion würde angesichts der Komplexität von Nanotechnologien für Versicherungen eine aufwändige Schadenabwehr mit hohen Kosten mit sich bringen.

In einem Positionspapier der Emerging Risks Initiative des CRO-Forums zur Nanotechnologie  wird sowohl auf die groβen Chancen, als auch auf die groβen Herausforderungen hingewiesen, welche Nanotechnologien für die Assekuranz darstellten. Angesichts des enormen Versicherungspozentials gelte es, die potenziellen Risiken von Nanomaterialien zu verstehen und Risiko-Bewusstsein und Risiko-Management zu fördern. Damit sollten mögliche Spätschäden möglichst ausgeschlossen werden.

Die erwähnte Gen Re-Studie stellt fest, dass sich Versicherer derzeit zu wenig oder gar nicht mit potenziellen Nano-Risiken auseinandersetzen. Anstelle des „passiven Abwartens" wird den Haftpflichtversicherungen ein vorausschauender Umgang mit Nanotechnologien und ein kontinuierliches Beobachten der Risikoforschung und der Regulierung mit einem „Versicherungs-Risiko-Radar" (s. Kasten) empfohlen.

Ungenügende Kennzeichnung und Regulierung von Nanomaterialien

Nanomaterialien werden auf nationaler und europäischer Ebene zwar von verschiedenen Gesetzen und Verordnungen erfasst. (z. B. REACH- , Kosmetik- , Biozidprodukte- , Medizinprodukteverordnung ) Die meisten derzeitigen Regelungen beziehen sich allerdings nicht speziell auf Nanomaterialien bzw. deren gröβenbedingten, spezifischen Eigenschaften. Kritiker und sogar Behörden  bemängeln, dass Nanomaterialien in den derzeit geltenden rechtlichen Regelungen nicht in angemessener Form berücksichtigt werden.

Für die Herstellung und Verwendung von synthetischen Nanomaterialien besteht innerhalb der EU, ausser in Frankreich, derzeit auch keine Melde- bzw. Registrierungspflicht . Ein geplantes europäisches Register für Nanomaterialien wurde bisher nicht realisiert. Ob und in welchen Mengen Nanomaterialien von Unternehmen und in Labors eingesetzt werden, ist weitgehend unbekannt. Entlang der Lieferkette führt dies zu einem gravierenden Informationsdefizit. Unternehmen sind meist nicht in der Lage, gegenüber Dritten Angaben zu den verwendeten Nanomaterialien zu machen. Damit führt z. B. auch ein noch so ausgeklügelter Nano-Fragebogen bei einem Versicherungsantrag nicht zu den gewünschten Daten. Versicherungen müssen das Risikoprofil ihrer Versicherungsnehmer anderweitig ermitteln bzw. auf externe Daten zurückgreifen.

Fazit

Haftpflichtversicherungen kommen nicht um das Thema Nanotechnologien herum. Angesichts der groβen Verbreitung und des rasch wachsenden Marktes bieten sich interessante Geschäftsmöglichkeiten. Den bestehenden Unsicherheiten können Haftpflichtversicherungen begegnen indem sie

  • die Haftpflicht-Policen ihrer Versicherungsnehmer überprüfen,
  • Awareness von Kunden steigern und kritische Punkte analysieren,
  • interne Sensibilisierung fördern (Underwriting, Risk-Engineering),
  • geeignete Underwriting-Optionen mit einer risikogerechten Zeichnungsstrategie entwickeln,
  • ein kontinuierliches Monitoring nach Stand von Wissenschaft und Technik durchführen.

Kasten:

Mit einem Risiko-Radar gegen die Unsicherheit. Eine zentrale Voraussetzung für die Versicherbarkeit von neuen Technologien ist das Vorhandensein quantitativer, empirischer Daten. Derzeit fehlen solche Erfahrungswerte für viele Nanomaterialien. Neben einfachen Verfahren zur Risikokategorisierung (Risikoraster) setzen Versicherer auf die stoff-, bzw. materialbezogene Risiko-Beobachtung. Ein von der Innovationsgesellschaft, St.Gallen entwickeltes Nano-Risiko-Monitoring-System erweitert die Perspektive, indem weitere, versicherungsrelevanten Risikofelder über die Zeit analysiert und bewertet werden.

Der Autor ist Geschäftsführer der Innovationsgesellschaft, St.Gallen und Dozent an der Universität St.Gallen. Er berät Versicherungen und Industrieunternehmen beim Risiko-Management neuer Technologien. christoph.meili@innovationsgesellschaft.ch

(1) Empfehlung der Kommission vom 18. Oktober 2011 zur Definition von Nanomaterialien  (http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:275:0038:0040:DE:PDF)

(2) BMBF (2012). Kompetenzatlas Nanotechnologie in Deutschland. http://www.nano-map.de

(3) Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie e. V. (2010). VdL-Leitfaden für den Umgang mit Nanoobjekten am Arbeitsplatz

(4) Gerloff, K.B. (2010). Nanoparticles and the Intestine. In-vitro and in vivo investigations on genotoxic and inflammatory effects. Inaugural Dissertation. Heinrich Heine Universität, Düsseldorf.

(5) Gen Re (2012). Vorausschauender Umgang mit Nanotechnologien im Rahmen der Haftpflichtversicherung.

(6) CRO Forum (2010). Nanotechnology - CRObriefing Emgerging Risks Initiative - Position Paper.

(7) Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH)

(8) Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über kosmetische Mittel

(9) Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten.

(10) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009

(11) Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz des Landes Baden-Württemberg (2012). Nanomaterialien: Regulierungen, national - international.

(12) Die Innovationsgesellschaft (2012). Französisches Nano-Register könnte in weitern Ländern Schule machen. http://www.innovationsgesellschaft.ch/de/index.php?newsid=609&section=news&cmd=details

Quelle: Versicherungswirtschaft

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