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10.11.2011

Schwarze Schwäne: LEADER SPECIAL-Artikel

Krisen und Katastrophen treffen uns dann besonders hart, wenn die auslösenden Risiken falsch eingeschätzt oder übersehen wurden. Solche Ereignisse werden oft als Schwarze Schwäne bezeichnet. Diese «unknown unknowns» schlagen dort zu, wo unser Risiko-Radar blinde Flecken hat. Der Umgang mit Schwarzen Schwänen verlangt von Organisationen neben Risikomanagement das Denken des Undenkbaren.

Im Bann der Schwarzen Schwäne - Vom Umgang mit Risiken
Von Dr. Christoph Meili, CEO der Innovationsgesellschaft St.Gallen mbH

Niemand konnte (oder wollte) sich vorstellen, dass der Dow-Jones an einem einzigen Tag 25 % seines Werts verliert. Am 19. Oktober 1987, dem «Black Monday», passierte es. Und niemand konnte (oder wollte) sich vorstellen, dass mit Hypotheken hinterlegte Wertpapiere dereinst eine globale Finanzkrise auslösen würden. Im September 2008 war es soweit: Die globalen Finanzmärkte mussten durch massive Staatshilfen vor dem Kollaps gerettet werden. Und bis im März 2011 konnte (oder wollte) man sich nicht vorstellen, dass im Hightechland Japan eine atomare Katastrophe wie Fukushima möglich ist. All dies sind Beispiele von Schwarzen Schwänen.

Eine neue Art von Risiken?

Bis ins 17. Jahrhundert war man in Europa davon überzeugt, dass alle Schwäne weiss sind. Dann wurde Australien entdeckt. Dort gibt es schwarze Schwäne. Man nahm an, dass diese sehr selten sind. Deshalb galt der Schwarze Schwan lange als Metapher für extrem seltene Ereignisse. Der Finanzmathematiker Nassim Taleb hat 2007 in seinem Buch «Der Schwarze Schwan» dieses Bild aufgenommen und an Beispielen gezeigt, dass vermeintlich seltene Schwarze-Schwan-Ereignisse sehr viel häufiger eintreten, als wir gemeinhin annehmen. Ein Schwarzer Schwan erfüllt drei Kriterien: Erstens ist er ein «Ausreisser» und wird nicht vorausgesehen. Zweitens hat er extreme Auswirkungen. Und drittens werden nachträglich Erklärungen für das Eintreten konstruiert.

Aus Sicht des Risikomanagements handelt es sich bei Schwarzen Schwänen um Extremereignisse mit kleinster Eintrittswahrscheinlichkeit und grösstmöglichen Auswirkungen. Schwarze Schwäne entziehen sich der Berechenbarkeit, weil sie an den äussersten Enden der statistischen Verteilungskurve liegen. Und sie liegen ausserhalb unseres «Risiko-Radars»: Sie werden entweder nicht als Risiken wahrgenommen oder falsch eingeschätzt. Die Ursache für das Auftreten und die Auswirkungen liegt also nicht bei der Art oder Neuigkeit der Risiken, sondern bei der fehlenden Wahrnehmung bzw. unserem Mind-Set.

Das Truthahn-Prinzip - und was man dagegen tun kann

Der Truthahn ist ein Beispiel dafür, wie man von Schwarzen Schwänen überrascht werden kann. An 364 Tagen wird er gefüttert und umsorgt. Er hat keinen Grund zur Annahme, dass sich daran jemals etwas ändern wird. Vor dem Bauern braucht er sich nicht zu fürchten, weil er täglich von ihm gefüttert wird. Bis das Tier am 365. Tag völlig überraschend geschlachtet wird. Bei Schwarzen Schwänen geht es uns wie dem Truthahn. Dies aus drei Gründen:

  • Wir fürchten uns vor den falschen Dingen und schätzen Risiken falsch ein. («Die Angst des Rauchers vor den Handystrahlen.»)
  • Wir übersehen Risiken: Viele Krisen und Katastrophen gelten bzw. galten bis zum Eintreten nachweislich als undenkbar.
  • Wir orientieren uns bei Risiken vor allem an unserer Erfahrung und damit an der Vergangenheit: Solange nichts passiert, fühlen wir uns sicher, weil nichts passiert ist.

Um nicht das Truthahn-Schicksal zu erleiden, gilt es drei Regeln zu beachten:

Regel 1:  Fürchte Dich, aber «richtig»!

Unser Umgang mit Risiken ist oft irrational und wir fürchten uns vor den «falschen» Dingen. Zudem gilt: Was wir am meisten fürchten, bringt uns am seltensten um. Es sind weder Handystrahlen, Flugzeugabstürze, Blitzschläge, Genfood noch Atomunfälle, die unser Leben bedrohen, sondern viel banaler: Rauchen, Alkohol, Verkehr und Zivilisationskrankheiten. Für Unternehmen gilt das Gleiche: Die Risikowahrnehmung ist oft geprägt von kurzfristigen und engen Perspektiven auf bekannte Risiken. Vernachlässigt werden systemische, vernetzte und vor allem schleichende Risiken. Aus der Praxis wissen wir, dass man sich mit 360°-Risk-Monitoring, Early-Warning-System (EWS) oder Szenarienbildung vor unliebsamen Überraschungen schützen kann.

Regel 2: Gefühl von Sicherheit erhöht Risiko

Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit bewirken oft das Gegenteil. In den USA wurde beispielsweise der anfängliche Bonus für ABS-Fahrzeuge wieder abgeschafft, weil ABSFahrzeuge wesentlich mehr Unfälle verursachten als normale Autos. Die Fahrer wogen sich in falscher Sicherheit und fuhren darum riskanter. In Unternehmen gilt das Gleiche: Komplexe Sicherheitssysteme werden mit einem überproportional riskanten Verhalten oder durch Zufall heraus- bzw. überfordert. Das plötzliche und unerwartete Versagen von Steuerungsanlagen in Systemen und Prozessen führt dann zu Systemzusammenbrüchen und Crashs mit hohen Schäden. Regelmässige «Risk-Checks» und Simulationen in kritischen Prozessen können Schwachstellen rechtzeitig aufzeigen.

Regel 3:  Kein «Management by Rückspiegel» für Hyperrisiken

Risiken sind Ereignisse, die in der Zukunft liegen. Sie werden aber mit den Erfahrungen der Vergangenheit prognostiziert und bewältigt. Dies klappt bei bekannten und einfachen Risiken relativ gut. Geht es aber um «neue» oder komplexe Risiken («Hyperrisiken»), wird es schwierig. Der «Global Risk Report 2010» des WEF stellte fest, dass die globalen Risiken in den letzten Jahren mehr oder weniger die gleichen geblieben sind. Was sich aber verändert hat, sind deren rasch zunehmende Vernetzung, die gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung sowie die globale Bedeutung. Solche Risiken ziehen lebenswichtige Systeme (Energie, Kommunikation etc.) in Mitleidenschaft, weil sie sich in Systemen «fortpflanzen» können. Systemübergreifend können sie weitere Risiken in anderen Systemen (z. B. Finanzsystem) auslösen oder verstärken. Gekoppelte Risiken treten nicht mehr einzeln und isoliert auf, sondern geografisch und zeitlich verteilt. Wenn technische Risiken (AKW), Umweltrisiken (Erdbeben) und zum Beispiel geopolitische Risiken (politische Aufstände) plötzlich und isoliert auftreten, erscheint dies bedrohlich. Wenn vernetzte Risiken in Form von wirtschaftlichen Risiken (Finanzkrise, Währungsrisiken usw.), klimatischen Risiken (Unwetter, Fluten, Dürren), vermehrt gekoppelt mit unterschiedlicher Dynamik (schleichend oder schnell) als Risikokomplexe durchschlagen, dann entstehen Risiken mit globalem Schadenpotenzial.

Schwarze Schwäne füttern - und Innovationen ernten

Risiko bedeutet Gefahr und Chance gleichermassen. Aus Katastrophen und Risiken können für Unternehmen und ganze Branchen auch immer neue Opportunitäten entstehen. Die Finanzkrise hat die Schwächen der globalen Finanzsysteme aufgezeigt und zu zahlreichen Verbesserungen geführt. Die Katastrophe von Fukushima gibt den erneuerbaren Energien derzeit gehörigen Aufwind und schickt sich an, die Energiebranche in vielen Ländern neu zu sortieren. So gesehen sind Schwarze Schwäne nicht nur als Risiken zu sehen, sondern durchaus auch als Chance.

Das Internet, Google, die Entwicklung der sozialen Medien und viele andere Innovationen, die plötzlich und unerwartet zu neuen Geschäftsfeldern und Gesellschaftsmodellen geführt haben, sind Beispiele dafür, dass Schwarze Schwäne nicht nur Gefahren bergen, sondern auch enorme Chancen mit sich bringen können. Innovationen und revolutionäre Entwicklungen mit Schwarzen Schwänen werden allerdings erst möglich, wenn wir unsere Denkweise dahingehend verändern, dass
der «Chancen-Such-Radar» erweitert und die Innovationsmethodik anpasst werden. Sowohl für Risiko- als auch für Chancen- Schwäne gilt, dass man sie nur finden kann, wenn man das Unvorstellbare denken und sich mit planlosem Querdenken auch «Out of the Box» bewegen darf. Die konstruktive Bewältigung von Schwarzen Schwänen im Risiko- als auch im Chancenbereich erfordert neue, interdisziplinäre Ansätze des Risiko- und vor allem des Innovationsmanagements. Neuartige Instrumente wie ROSE (Risk and Opportunity Strategy Evaluation) oder das 360°-Risiko-Monitoring- Tool können Unternehmen helfen, dem Truthahn-Schicksal zu entgehen.

Christoph Meili ist CEO der Innovationsgesellschaft, St. Gallen und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Er berät Unternehmen beim Umgang mit neuen Risiken und im Innovationsmanagement (www.innovationsgesellschaft.ch; christoph.meili@unisg.ch).

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