Tonnenweise Mikroplastik durch Reifenabrieb
Über Plastikmüll in den Weltmeeren wird viel geredet, aber was ist mit Mikroplastik im Boden, in Gewässern und der Luft? Das Fraunhofer-Institut für Umwelt, Sicherheit und Energietechnik hat sich in einer Studie mit Ursachen, Mengen, Wirkungen und Lösungsansätzen befasst.
Videos über Mikroplastik in Kosmetikartikeln und Kleidung schwappen oft durch soziale Netzwerke und haben viele Menschen für die Problematik sensibilisiert. Dabei sind sie gar nicht die Haupt-Quellen, sondern Autos, beziehungsweise deren Reifen. Sie emittieren am meisten Mikroplastik in die Umwelt, wie die Studie "Kunststoffe in der Umwelt zu Mikro- und Makroplastik" des Fraunhofer-Instituts für Umwelt, Sicherheit und Energietechnik Umsicht belegt. Neben dem Abrieb von Autoreifen sind auch die Mikroplastik-Emissionen etlicher überraschender "Produzenten" aufgelistet: Sportplätze, Kompost, Bauschutt, Gebäudefassaden, Medikamente, Pyrotechnik, Wettkampfbahnen, Schuhsohlen.
Brauchen wir mehr Straßenreinigung?
Zusammengerechnet bringen es der Studie zufolge Autos, Lkw, Motorräder, Fahrräder und Skateboards auf 1.228,5 Gramm Mikroplastik-Abrieb, wobei der Pkw-Reifenabrieb mit 998,0 Gramm pro Kopf und Jahr mit 81% den Löwenanteil ausmacht. Angesichts von 63,7 Millionen allein in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen (Stand Januar 2018) verwundert das wenig, denn Reifen arbeiten sich im Laufe ihrer Lebensdauer vom Umfang her ab, sagt Ingenieur Ralf Bertling, der an der Studie gearbeitet hat: "Der Reifen reibt ab und das ist gut, das er das macht. Wenn er das nicht machen würde, würden wir aus der Kurve fliegen, und nicht auf der Straße bleiben."
Der feste Halt auf dem Asphalt hat seinen Preis - denn egal, ob Bremsspuren an unfallträchtigen Kreuzungen oder normaler Abrieb: das Material wird vom Regen von der Straße über die Böschung oder die Kanalisation gespült, oder wie es im Fachjargon heißt "über die Schulter entwässert" - und landet so entweder im Boden oder im Wasser. Was einen die Straßenreinigung in neuem Licht betrachten lässt: Brauchen wir dann mehr davon? "Das wäre im Grunde ein Vorsorgeprinzip, dann wäre der Abrieb von der Straße weg," sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter des Fraunhofer-Instituts, gibt aber auch zu bedenken, dass mehr Straßenreinigungs-Einsätze auch mehr CO2-Ausstoß produzierten.
Was ist mit Mikroplastik-Quellen wie Kleidung und Kosmetik?
In der Studie ist Kleidung in Haushaltswäsche und Textilwäsche aufgegliedert; zusammen kommen sie auf 142,8 Gramm freigesetztes Mikroplastik pro Kopf im Jahr. Ist das jetzt viel oder wenig? Weder noch. Sie sind nämlich mengenmäßig Mikroplastikquellen ähnlich, die noch nicht in der öffentlichen Debatte aufgetaucht sind: Sport- und Spielplätze, die nach der Menge den Wäschefreisetzungen mit 131,8 Gramm recht nahe kommen: Der Abrieb kommt per Verwehung in die Umwelt, oder über Regen. Weit größer sind Abriebe aus der Abfallentsorgung (302,0 Gramm), aus Bitumen im Asphalt (228 Gramm) oder aus Baustellen (117,1 Gramm). Die viel gescholtene Kosmetikindustrie ist mit 19 Gramm ein kleines "Licht", dann könnte man noch eher die Abriebdaten für Lacke und Farben anprangern, 65 Gramm - oder Hausfassaden mit 37 Gramm Abrieb.
Wo entsteht sonst noch Mikroplastik?
Die recht kleinteilige Auflistung der Studie unterscheidet viele einzelne Emittenten von Mikroplastik, von Reifen- über Schuhabrieb, über kosmetisches Mikroplastik bis hin zu Kehrmaschinen und Hausfassaden: Auf den ersten Blick wirkt die Rolle der Industrie beim Thema Mikroplastik eher unbedeutend, wenn Abrissarbeiten, Verarbeitung von Kunststoffen auf der Baustelle, Metallzerkleinerung, industrieller Verschleißschutz, Förderbänder, Abrieb bei Riemen, Zahnräder, Gleitlagern, Gleitschienen einzeln betrachtet werden.
"Es ging darum, eine möglichst große Vollständigkeit bei den möglichen Quellen zu erzielen", erklärt Umweltforscher Bertling. Auch beim Blick aufs große Ganze, auf wen entfallen wie viele Anteile am Mikroplastik-Gesamtvolumen, wirkt die Industrie eher blass: Demnach entfallen auf das produzierende Gewerbe nur 14 Prozent, auf privaten Konsum und Endanwender 24 Prozent und die restlichen 62 Prozent auf die Bereiche Verkehr, Infrastruktur und Gebäude - und damit indirekt auf die Verbraucher: Denn nicht die Industrie fährt massenhaft Auto – sondern die Verbraucher. Offenbar alles eine Frage, aus welchem Blickwinkel und von welchem Moment der Nutzungskette man hinschaut. Denn selbst wenn die Autofahrer den Abrieb auf die Straße bringen - die Reifen sind industriell hergestellt.
Aber wer ist denn nun verantwortlich?
Aber wer hat es denn nun in der Hand, wer ist verantwortlich - Industrie, Politik, Verbraucher? "Jeder einzelne", sagt Bertling, "ob Unternehmer oder Politiker - alle sind wir Bürger, wir leben in einem Land, auf einem Planeten, wir können da alle dran arbeiten," und führt aus: "Indem wir am Wochenende das Auto stehen lassen, indem wir möglichst wenige Kunststoffabfälle erzeugen, Motto 'vermeiden geht vor verwerten' und wenn wir Kunststoffabfälle erzeugen, dass wir sie richtig entsorgen." Auch wenn es über die Wirkung und Folgen von Mikroplastik im Boden in Bezug auf den menschlichen Organismus bislang keine Daten aus der Forschung gibt - kritisch sein hilft, sagt der Umweltforscher und verweist auf die Wirkung öffentlicher Debatten: "Kosmetisches Mikroplastik ist von den Herstellern schon zu großen Teilen entfernt worden."
Quelle: https://www.mdr.de/wissen/mehr-mikroplastik-durch-reifenabrieb-als-durch-kosmetik-und-kleidung-100.html
Originalartikel (DE): https://www.umsicht.fraunhofer.de/content/dam/umsicht/de/dokumente/publikationen/2018/kunststoffe-id-umwelt-konsortialstudie-mikroplastik.pdf