Mikroplastik in Meeren
Mikroplastik beschäftigt die Gesellschaft zunehmend, weil es im Verdacht steht, Schäden an Mensch und Umwelt zu verursachen. In einer kürzlich erschienenen Arbeit wurde das Risiko von Mikroplastik in Meeren aufgrund echter Umweltkonzentrationen bewertet.
Plastik ist allgegenwärtig, der Nutzen unbestritten – es ist ein formbares und lange haltbares Material, doch seit einiger Zeit wird Plastik und deren Verwendung in der Öffentlichkeit debattiert. Ein signifikanter Anteil der produzierten Plastikmenge landet in der Umwelt (Schätzungen zufolge 79% aller Plastikabfälle) und verschandelt so die Natur. Ist Plastik erst einmal dort angekommen, bleibt er aufgrund seiner Beständigkeit Jahrzehnte lang erhalten und zerfällt nur langsam in kleinere Teilchen. Der resultierende Mikroplastik ist nun seit mehr als 10 Jahren Gegenstand von Forschung und öffentlichem Diskurs: Welche Auswirkungen haben diese Plastik-Winzlinge auf den Menschen und unsere belebte Umwelt, im Boden, der Luft und in den Gewässern?
Was ist überhaupt Mikroplastik?
Erste Berichte über kleine, schwimmende Plastikteilchen gab es schon in den 70er Jahren, aber der Begriff «Mikroplastik» wurde erst 30 Jahre später definiert. Darunter werden heute gemeinhin Teilchen aus synthetisch hergestelltem Polymer verstanden, die in ihrer grössten Dimension weniger als fünf Millimeter lang sind. Wieso genau fünf Millimeter? Aus wissenschaftlicher Sicht macht diese Grenze keinen offensichtlichen Sinn, aber es wurde eben 2009 so vorgeschlagen. Die meisten toxikologischen Studien und Messungen von Mikroplastikkonzentrationen in der Umwelt haben sich seither an dieser Definition orientiert.
Damit aber noch nicht genug. Die Wörter «Teilchen» und «Plastik» umschliessen eine Vielzahl von Möglichkeiten. So kann Mikroplastik in verschiedenen Formen existieren, z.B. als Fasern, Sphären, Würfelchen oder auch komplett unförmige Teilchen, die nicht direkt einer der vorherigen zugeordnet werden können. Plastik umfasst zudem eine grosse Bandbreite aus synthetischen Polymeren. Kombiniert man nun die verschiedenen Polymere und möglichen Formen, resultiert eine immens grosse Zahl an möglichen «Teilchen», die als Mikroplastik gelten.
Polymertyp | Kürzel | Verwendung |
Polyethylenterephthalat | PET | Kunststoffflaschen |
Polypropylen | PP | Verpackungen |
Polyethylen | PE | Verpackungen |
Polystyrol | PS | Folien oder Schaumstoff (expandiert: Styropor) |
Polyvinylchlorid | PVC | Rohre, Schallplatten |
Verschiedene Arten von Polymeren fallen unter den Begriff Plastik: Bekannte Polymertypen mit ihren Kürzeln und möglichen Verwendungen.
Umweltrisikoanalyse kurz erklärt
Wie weiss man denn nun, ob Mikroplastik gefährlich ist für die Bewohner unserer Umwelt? Die gängige Methode, um eine Antwort hierfür zu finden, ist die Umweltrisikoanalyse. Sie kombiniert Daten aus zwei separaten Analysen: Gefährdungs- und Expositionsanalyse.
In Toxizitätsstudien wird versucht herauszufinden, welche Konzentration des in Frage stehenden Stressors (bspw. die Mikroplastikpartikel oder andere Chemikalien) für ein Lebewesen gefährlich ist. Für solche Untersuchungen gibt es detailliert beschriebene Testverfahren, die Forscher anwenden können (Firmen, die einen Stoff auf den Markt bringen wollen, sind verpflichtet, für eine erfolgreiche Registrierung solche Tests nach den Richtlinien durchzuführen). Bisherige Resultate aus Studien geben zur Toxizität von Mikroplastik kein klares Bild: Einige haben Effekte auf bspw. Reproduktionsfähigkeit oder auch andere Endpunkte (z.B. Expression spezifischer Gene) gefunden, während andere überhaupt keine Effekte beobachten konnten.
In der Ökotoxikologie werden in einer speziellen Methodik, der so genannten «Species Sensitivity Distribution» (oder kurz SSD), viele solcher Toxizitätsdaten zusammengeführt. Der Grundgedanke dahinter ist, dass damit mehrere Spezies eines Habitats in der Reihenfolge ihrer Empfindlichkeit gegenüber des untersuchten Stressors in einer Verteilung festgehalten werden können. Eine höhere Konzentration bedeutet dabei, dass eine Spezies weniger empfindlich ist (weil ein Stoff giftiger ist, wenn schon kleinere Mengen Schaden anrichten können). Die neue Studie hat explizit nur die Wirkung der Plastik-Polymere untersucht, also die inhärente Giftigkeit von Plastik. Zusatzstoffe in der Polymermatrix (z.B. Flammschutzmittel oder Nanopartikel) sowie aus der Umwelt adsorbierte Chemikalien waren nicht Teil der Untersuchung.
Mit der Bestimmung der Toxizität eines Stoffes ist aber nur der erste Schritt getan. Ganz im Sinne von Paracelsus’ bekannter Aussage «Die Dosis macht das Gift» muss bei einer (Umwelt-)Risikoanalyse die Exposition der Organismen im Habitat, die Umweltkonzentration, bestimmt oder geschätzt werden. Gängige Methoden für die Expositionsanalyse umfassen mathematische Modelle basierend auf Produktionsdaten und Stoffflüssen oder Daten aus Feldmessungen. Für beide Arten der Bestimmung gibt es Grenzen, z.B. in der Probenahme, -verarbeitung oder -analyse oder die Verfügbarkeit von Daten zu Produktionsmengen eines Stoffs. Nichtsdestotrotz ist die vorliegende Studie die erste, welche ausschliesslich echte Messwerte aus der marinen Umwelt berücksichtigt – und dabei nicht wenige: Gesamthaft sind 1056 Messwerte in die Analyse eingeflossen.
Risiko ist die Wahrscheinlichkeit (Probability), dass ein negativer Effekt (Impact) eintritt. Die dargestellte Matrix illustriert dies mit einem Ampelsystem: Wenn ein negativer Effekt nur sehr unwahrscheinlich eintritt, ist das Risiko geringer. Hingegen stellt ein moderat negativer Effekt, der mit grosser Wahrscheinlichkeit eintritt, ein grosses Risiko dar. Bildquelle: Wikimedia Commons
Sind diese Daten erst einmal erhoben, kann nun die eigentliche Risikoanalyse durchgeführt werden, indem die Giftigkeit des Stoffes mit der Exposition verglichen wird. Dadurch wird der Risikoquotient errechnet. Ist die gemessene oder berechnete Konzentration in der Umwelt höher als eine definierte Konzentration (die so genannte «Predicted No Effect Concentration», PNEC, bei der 95% der Spezies nicht negativ betroffen sind), sind die Lebewesen im untersuchten Umweltkompartiment durch diesen Stoff in Gefahr. Der Risikoquotient ist in diesem Fall grösser als eins. Ist die Umweltkonzentration jedoch tiefer, besteht im Moment kein Risiko (und der Risikoquotient ist kleiner als eins).
Verfeinerte Risikoanalyse
Dieses Verfahren wurde in der kürzlich erschienenen Arbeit nun angewendet, allerdings mit verfeinerter Methodik. Jede Messung ist mit Abweichungen behaftet. Toxizitätsdaten stammen oftmals nur aus Tests von kurzer Dauer (zur Bestimmung der akuten Toxizität), die weniger aussagekräftig sind als langfristige Tests (zur Bestimmung der chronischen Toxizität). So werden in der verwendeten Methode alle Abweichungen sowie Sicherheitsfaktoren zur Umwandlung von akuten zu chronischen Daten miteinberechnet. Jede Analyse wurde anschliessend 10'000 mal simuliert (eine so genannte Monte-Carlo-Routine). So werden nicht nur zwei Durchschnittswerte, stammend aus den Toxizitäts- und Expositionsdaten, sondern zwei Normalverteilungen auf mögliche Überlappungen untersucht. Das Resultat der Risikoanalyse ist somit nicht nur ein Wert und eine binäre Schlussfolgerung: Risiko oder kein Risiko. Stattdessen wird von Prozent an Überlappung der beiden Verteilungen berichtet und der Risikoquotient gibt ein besseres Bild der Situation, weil allfällige Unschärfen auch miteinberechnet sind.
Stellt Mikroplastik ein Risiko in Meeren dar?
Die Frage bleibt nicht einfach zu beantworten. Erstaunlicherweise basieren 80% der Daten, die in die SSD eingeflossen sind, auf der höchsten getesteten Konzentration, bei denen aber trotzdem kein negativer Effekt festgestellt werden konnte. Das lässt darauf schliessen, dass die Toxizität von Mikroplastik generell tief ist. Eine Folgestudie hat erstmals die Gefährlichkeit vom noch kleineren Nanoplastik untersucht. Laut den Autoren ist der Nanoplastik sogar weniger gefährlich als der grössere Mikroplastik und auch als technisch hergestellte Nanomaterialien. Dies ist eine erste Widerlegung der Hypothese, dass die Toxizität mit abnehmender Partikelgrösse zunimmt.
Weltweit befinden sich in einem Kubikmeter Wasser durchschnittlich 1'500 Mikroplastik-Teilchen. Das tönt nach viel. Schaut man allerdings den Median an, sind es nur noch 1.6 Teilchen auf einen Kubikmeter Wasser. Für eine differenziertere Sichtweise wurde das Datenset auch auf weitere Faktoren untersucht. So identifizierten die Autoren den geografischen Standort als möglichen Grund für Unterschiede. Die Konzentrationen unterschieden sich zum Beispiel zwischen dem Mittelmeer und pazifischen Gewässern oder zwischen Messungen in Landnähe und solchen im offenen Ozean.
Nach den Berechnungen der Studie ist ein Risiko zurzeit sehr unwahrscheinlich. Nur in ganz wenigen Fällen sind die Umweltkonzentrationen hoch genug um giftig zu sein, so dass ein Risiko also nicht vollends ausgeschlossen werden kann. Der durchschnittliche Risikoquotient müsste allerdings um den Faktor 2500 ansteigen, damit er den Grenzwert eins erreicht. Daher ist auch bei anhaltender Zunahme des Plastikeintrags nicht unmittelbar von einer Gefährdung mariner Lebewesen auszugehen.
Was eine Risikoanalyse kann – und was nicht
Eine Risikoanalyse kann nur abbilden, was die Daten hergeben, auf der sie beruht. So wurden in der Studie zwei Faktoren identifiziert, welche bei der Interpretation der Analyse beachtet werden sollten. Die Netzgrösse der Sampling-Geräte hat einen Einfluss auf die gemessene Umweltkonzentration. Im Mittelmeer wurden beispielsweise nur Netze mit einer Maschenweite von 200 µm oder grösser verwendet. Die verhältnismässig tiefen Konzentrationen (Durchschnitt: 2.4 Partikel/m3) sind also mit Vorsicht zu geniessen. Hätte man kleinere Maschenweiten verwendet, wären möglicherweise mehr Partikel hängen geblieben und entdeckt worden.
Das andere Problem betrifft die unterschiedlichen Mikroplastikpartikel im Labor und in der Umwelt. Die Datensets der Expositions- und Gefährdungsanalyse weichen diesbezüglich stark voneinander ab. Das im Labor am meisten getestete Polymer ist PS mit 56% der Datenpunkte. In der Umwelt macht PS aber nur 4% des gefundenen Mikroplastiks aus. In den Weltmeeren findet man viel mehr PE und PP (36% und 27%), wobei letzteres noch gar nicht auf seine Toxizität untersucht wurde. Ebenfalls waren die im Labor untersuchten Partikel meist viel kleiner als diejenigen, welche aus dem Meer gefischt wurden. Das illustriert den zukünftigen Bedarf, die Toxizitätsstudien in Zukunft mehr nach den Bedingungen in der belebten Umwelt zu gestalten, um die Aussagekraft der Umweltrisikoanalysen zu verbessern und die Auswirkungen von Partikelgrösse und -form besser verstehen zu können.
Autor: Alex von Wyl
Originalveröffentlichung: Aquatic Toxicology: Adam et al. (2020) - Probabilistic environmental risk assessment of microplastics in marine habitats
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